A_Meister

Ein wahrer Meister und sein Erfolgsrezept

Boccaccio - Der Liebhaber im Fass im Wandel der Zeiten. Bild oben links aus der Produktion des Theaters für Niedersachsen, Hildesheim. Foto: Jochen Quast (www.JochenQuast.de)

Franz von Suppé, 1819 im dalmatinischen Split geboren, gilt mit dem kleinen, 1860 uraufgeführten Einakter Das Pensionat als Erfinder der Wiener Operette. In den Jahren vorher hatte die aus Paris herübergeschwappte Welle der Offenbach-Begeisterung die österreichische Hauptstadt erfasst, nun gab es zum ersten Mal ein einheimisches Werk, dem von zahlreichen Komponisten viele weitere folgen sollten. Suppé,  als Kapellmeister am Theater an der Wien und anderen Bühnen fest angestellt und seit Jahren etabliert als Lieferant von Bühnenmusiken, Liedern und Ouvertüren für die Schau- und Singspiele dort, war hier einer der produktivsten und einflussreichsten. Von Anfang an griff er den typischen, entwaffnend und bezaubernd einfachen Stil der Offenbach'schen Couplets und Ensemblesätze auf, ergänzte und erweiterte ihn aber um alles, was er an musikalisch Wirkungsvollem sonst noch vorfand: Das sind einerseits große Finali und Ensembles im damals in Wien dominierenden italienischen Stil der Nachfolge Donizettis und Bellinis, Elemente der deutschen romantischen Oper und Spieloper und sogar Anklänge an Wagners bahnbrechende Neuerungen. Auf der anderen Seite stehen die gleichzeitig entstehende Wiener Tanzmusik wie die der Strauss-Dynastie und die simplen aber wirksamen Gesänge und Liedchen der volkstümlichen Wiener Possen. Dieses Durchmessen der gesamten Bandbreite des musikalisch Wirksamen war ihm durch seine exzellente kompositorische Schulung möglich: Er hatte beim strengen Beethoven-Schüler Seyfried studiert, seine ersten kompositorischen Schritte mit geistlichen Werken getan, war mit Donizetti befreundet und hat zeitlebens an den Entwicklungen der "seriösen" Oper, besonders der in seiner italienischen Muttersprache, regen Anteil genommen. Ein anderer Komponist, den wir vielleicht von heute aus als einen "größeren", "bedeutenderen" bezeichnen würden, hätte möglicherweise versucht, dieses alles zu einem Neuen, Eigenen zu amalgamieren. Das war Suppés Sache nicht, seine große Stärke war seine Fähigkeit, erprobte Erfolgsrezepte und Wirkungen (der Vorwurf des Plagiators verfolgte ihn denn auch zeitlebens) in solcher Meisterschaft aufzugreifen und zu vereinen, wie es im 1879 am Carl-Theater triumphal uraufgeführten Boccaccio der Fall ist.

Für unsere musikalische Umsetzung ist dieses mühelose Wechseln der musikalischen Flughöhe, das Nebeneinander von verschiedenen Stilen, den "hohen" und "niederen" Tönen, der große Reiz und die Herausforderung. Die opernhafte Überhöhung und Formalisierung bekommt hier oft einen doppelten Boden (dessen feine Ironie aber nur aus der Ernsthaftigkeit der Umsetzung entstehen kann). Auf der anderen Seite gilt es, die deklamatorische Kraft und Freiheit, die Kunst der Sprachbehandlung der damaligen Operettendarsteller, die ja keine Opernsänger waren, wiederzufinden und den ursprünglichen musikalischen Formeln zu ihrer rhythmischen Treffsicherheit und damit zu ihrem Witz (und ihrer Erotik!) zu verhelfen.

Ein sorgfältiges und informiertes Arbeiten ist bei vielen Operetten durch die schlechte Materiallage unmöglich, meist gibt es nicht einmal eine Partitur. Mit Hilfe des Partitur-Erstdrucks von 1879 und vor allem von Suppés Autograph konnten wir für unsere Produktion das Material einer kompletten Revision und Korrektur unterziehen. Beim Auffinden dieser beiden Dokumente und mit vielen weiteren Hinweisen half mir der Wiener Musikwissenschaftler Prof. Vladimir Haklik. Ihm sei hier herzlich gedankt.

Florian Ziemen, September 2015

Florian Ziemen ist Erster Kapellmeister und stellvertretender Generalmusikdirektor am Stadttheater Gießen sowie Gastdirigent und musikalischer Leiter für die Produktion "Boccaccio" 2015/2016 am Theater für Niedersachsen in Hildesheim. Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors dem Programmheft dieser Produktion entnommen.
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